Die Ausdehnung der Verfahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat
Arbeitsstil und Effizienz der EU-Organe sind wesentlich davon abhängig, ob Rechtsakte durch einstimmige oder mehrheitliche Beschlüsse im Rat verabschiedet werden können. Die Möglichkeit zur Mehrheitsentscheidung erhöht - im Gegensatz zum Einstimmigkeitserfordernis - die Verhandlungsbereitschaft der Beteiligten und somit auch die Entscheidungseffizienz des Rates. Die Ausweitung der Anwendungsfelder für Mehrheitsbeschlüsse spiegelt insofern die Einsicht der Mitgliedstaaten wider, aus Gründen der Handlungseffizienz und -fähigkeit ihre nationalstaatliche Souveränität in den betroffenen Politikfeldern dauerhaft aufzugeben und "die angenommenen Rechtsakte auch als unterlegene Minderheit - und unter Umständen gegen den Willen der nationalen Parlamentsmehrheit - umzusetzen."
Empirisch fungiert die Mehrheitsentscheidung als ein über dem Rat schwebendes Damoklesschwert zur Steigerung der Entscheidungsfreudigkeit im "Schatten der Abstimmung". Analysen zur effektiven Nutzung der qualifizierten Mehrheitsregeln im Rat belegen, dass die Ausdehnung der Anwendungsfelder für Mehrheitsentscheidungen bis Ende der Neunzigerjahre nicht dazu geführt hat, dass ein größerer Anteil der Ratsentscheidungen auf der Grundlage einer Abstimmung verabschiedet wurde.
Bereits für die letzten vier Regierungskonferenzen 1986/1987, 1991/1993, 1996/1999 und 2000/2002 war die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit ein erklärtes Ziel einer Mehrheit der Mitgliedstaaten. Eine möglichst breite Anwendung dieses Prinzips ließ die Sicherstellung der Handlungsfähigkeit einer erweiterten Union schon alleine deshalb erwarten, weil kaum vorstellbar ist, wie 27 Staaten einstimmig über Verteilungs- und Regulierungspolitiken entscheiden sollen, die schon auf Grund der absehbar größeren sozioökonomischen Unterschiede und der hierauf basierenden Interessendivergenzen zu einer tendenziell immer asymmetrischeren Kosten- und Lastenverteilung führen. In den Nizza-Verhandlungen war die Ausweitung des Anwendungsbereichs für Mehrheitsentscheidungen das Ergebnis unsystematischer Einzelfallprüfungen. Die Prüfkriterien waren dabei fast ausnahmslos am Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten, und nicht an einem angesichts der zu erwartenden Effekte der EU-Erweiterung an strategischer Bedeutung gewinnenden Maßstab der inneren Steuerbarkeit und der äußeren Handlungsfähigkeit der Union ausgerichtet. Der Vertrag von Nizza führte schließlich zu 32 neuen von insgesamt 137 Bereichen, die mit In-Kraft-Treten des Vertrags von Nizza in die qualifizierte Mehrheit überführt wurden.
Im Verfassungskonvent konnte relativ rasch Einigkeit darüber erzielt werden, dass eine Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Union in allererster Linie über die Beschlussfassungsverfahren im Ministerrat zu erzielen wäre. Der Verfassungsentwurf des Konvents reduzierte die Zahl der fallspezifischen Handlungsermächtigungen, in denen der Rat einstimmig entscheiden muss, von 82 auf 78 und erhöhte die Zahl der Anwendungsfelder für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen von 137 auf 177. Die Regierungskonferenz 2003 konnte dieses Ergebnis nicht bestätigen. Auf Grund der neuen Sonderklauseln im Bereich der Innen- und Justiz- und der Sozialpolitik sowie der erst in der Regierungskonferenz vereinbarten, neuen Verfahren für die Änderung des VVE stieg die Zahl der qualifizierten Mehrheitsverfahren auf 181 und diejenige der einstimmigen Verfahren auf 92 an. Der LV hat an dieser Zuordnung nichts geändert. Im Vergleich zwischen den Endtexten des Konvents und dem LV nimmt somit die Zahl der Einstimmigkeitserfordernisse von 28,78 auf 30,62 Prozent zu und die der Mehrheitsverfahren von 65,31 auf 59,54 Prozent ab.
Tabelle 1: Entscheidungsmodi im Rat nach den Verfassungsentwürfen des Konvents (CONV 850/03) und nach dem Reformvertrag vom 13. Dezember 2007
Im Vergleich zu den vorangegangenen Regierungskonferenzen bestätigt der LV damit den im Vertrag von Amsterdam bereits eingeschlagenen Trend zur Reduzierung der Einstimmigkeitsvorbehalte sowie den zuletzt im Vertrag von Nizza bestätigten Pfad hin zur weiteren Ausdehnung der Anwendungsfelder für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen .
Abbildung 1: Entwicklung der Beschlussfassungsmodi im Rat der EU 1952 - 2009
Die Entwicklung des relativen Anteils der jeweiligen Entscheidungsverfahren im Rat macht allerdings auch deutlich, dass das absolute Wachstum der Bereiche für Mehrheitsentscheidungen vor allem auf Kosten eines Rückgangs derjenigen Fälle zurückzuführen ist, in denen der Rat bislang mit besonderen Mehrheiten beziehungsweise mit der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheiden kann.
Weiterhin der Einstimmigkeit bedürfen im Rahmen des Reformvertrages nicht nur die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sondern auch die Festlegung eines mehrjährigen Finanzierungsrahmens, die Steuerharmonisierung, die Diskriminierungsbekämpfung, die nach der Unterzeichnung des Vertrages vereinbarten Pakete zu den Struktur- und Kohäsionsfonds, zahlreiche Einzelbereiche der Umweltpolitik, bestimmte Aspekte der Handelspolitik, der straf- und familienrechtlichen Zusammenarbeit sowie die Bestimmungen über die Einsetzung einer europäischen Staatsanwaltschaft.
Die qualifizierte, doppelte Mehrheit im Wartestand
In der besonders umstrittenen Frage der Einführung eines einfacheren, transparenteren und - zumindest aus Sicht der größeren Staaten - gerechteren Abstimmungsverfahrens im Rat setzte sich im Konvent das System der qualifizierten, doppelten Mehrheit durch. Die beiden dem Konvent folgenden Regierungskonferenzen 2004 und 2007 veränderten den VVE-Entwurf jedoch erheblich, um einen für alle Seiten tragbaren Kompromiss zu finden.
Der Konvent schlug ursprünglich eine einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten (d.h. zurzeit 14 von 27), die 60 Prozent der Bevölkerung entsprechen muss, als Abstimmungsregel vor. Aus Rücksicht auf die Bedenken der kleineren Mitgliedstaaten wurden diese Quoren in der Regierungskonferenz 2004 um jeweils 5 Prozent erhöht, also auf 55 Prozent der Staaten und 65 Prozent der Bevölkerung (Art. 16 (4) EUV). Für Rechtsakte, die nicht auf Vorschlag der Kommission oder des HVU-ASP erlassen werden, erhöht sich das Staatenquorum auf 72 Prozent (Zum Vergleich: Das gegenwärtige Quorum von 255 von 345 gewogenen Stimmen entspricht etwa 74 Prozent der Staaten). Wichtig für die „kleinen“ Staaten war zudem die Festlegung der Sperrminorität, nach der mindestens vier Staaten erforderlich sind, um eine Entscheidung zu verhindern. Diese Schutzklausel wurde eingefordert, um eine Blockadekoalition der drei großen Staaten Deutsch¬land, Frankreich und Großbritannien zu verhindern.
Um auch die letzten Ein¬wände insbesondere der polnischen Delegation aufzunehmen, vereinbarten die Staats- und Regierungschefs auf der Regierungskonferenz 2007 eine Reihe von Ergänzungen:
1. Nach Art. 16 (4) EUV gilt das neue System der doppelten Mehrheit ab dem 1. November 2014.
2. Allerdings räumt das Protokoll über die Übergangsbestimmungen die Möglichkeit ein, für einen Übergangszeitraum bis zum 31. März 2017 weiterhin auf das Abstimmungssystem des Vertrags von Nizza zurückzugreifen.
3. Der Kompromiss von Ioaninna wird über den Rückgriff auf eine rechtlich unverbindliche Erklärung (Nr. 7 zu Art. 16 (4) EUV und zu Art. 238 (2) AEUV) für die Übergangszeit vom 1. November 2014 bis zum 31. März 2017 aktiviert. Demnach soll der Rat keine Entscheidung mit der neuen qualifizierten Mehrheit treffen, wenn mindestens drei Viertel des Bevölkerungsanteils (= 26,25 Prozent) oder mindestens drei Viertel der Mitgliedstaaten (= 33,75 Prozent), die für die Bildung einer Sperrminorität erforderlich wären, der Annahme eines Rechtsaktes widersprechen.
4. Ab dem 1. April 2014 wird der Schwellenwert des Ioninna-Kompromisses dauerhaft auf je 55 Prozent der Staaten (= 24,75 Prozent) bzw. der Bevölkerung (19,25 Prozent), die für die Bildung einer Sperrminorität erforderlich wären, gesenkt.
Insgesamt konnte in den beiden Regierungskonferenzen zwar grundsätzlich ein Wechsel vom System der gewichteten Stimmen hin zu einem System der doppelten Mehrheit erreicht werden. Der Mehrwert der doppelten Mehrheit wird aber durch die Viel¬zahl von Konditionen und einer Übergangsphasen kaum ersichtlich, zumal das Abstimmungssystem weder transparenter noch automatisch effizienter ist.
Andreas Maurer (Oktober 2013)