Die Reformen des Vertrages von Lissabon

Institutionen und Entscheidungsverfahren

 

Der Vertrag von Lissabon hat die institutionellen Strukturen und die Entscheidungsverfahren der EU umfassend reformiert. Zum einen ist das Europäische Parlament durch den Reformvertrag deutlich gestärkt worden – beispielsweise durch die Ausweitung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, bei dem Parlament und Ministerrat über gleichwertige Mitentscheidungsrechte verfügen. Das Parlament erhält zudem volle Mitentscheidungsrechte im Rahmen des Haushaltsverfahrens und ein konkurrierendes Initiativrecht für die Änderungen der Verträge. Ausgestattet mit diesen Mitentscheidungs- und neuen Zustimmungsrechten traten die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier nach Inkrafttreten der Reformen mit deutlich gesteigertem Selbstbewusstsein auf. Sie sind für Rat und Kommission zu harten Verhandlungspartnerinnen und -partnern geworden, wie etwa beim EU-Haushalt, internationalen und Handelsabkommen oder der Einrichtung der Finanzaufsichtsbehörden. Bei der Bewältigung der Schuldenkrise und der Rettungspakete für die betroffenen Schuldenstaaten blieb das Parlament formal außen vor, da der Großteil der Entscheidungen rein intergouvernemental getroffen wurde. Gleichwohl war das Parlament an der Aushandlung des Fiskalpakts informell beteiligt und erreichte letztlich auch, dass innerhalb von fünf Jahren nach Inkrafttreten dieses Vertrages eine Überprüfung mit dem Ziel der Integration seiner Reforminhalte in das EU-Vertragsrecht vorgenommen wird.

 

 

Der zweite große institutionelle Gewinner der Reformen ist der Europäische Rat, der mit zwei grundlegenden Veränderungen gestärkt wurde: Erstens rotiert der Vorsitz nicht mehr halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten. Stattdessen leitet nun ein permanenter Vorsitzender, der für zweieinhalb Jahre gewählt wird, die Beratungen des Europäischen Rates. Als erster Amtsinhaber wurde der Belgier Herman Van Rompuy gewählt, der zwischen den Staats- und Regierungschefs eine wichtige Rolle als Wegbereiter von Kompromissen und Vermittler eingenommen hat. Zweitens wird der Europäische Rat erstmals zu einem offiziellen Organ der EU aufgewertet. Durch den Vertrag von Lissabon erhält er neue Impulsgebungs-, Koordinierungs-, Beschlussfassungs- und Weisungsrechte. Vor allem aber wurde der Europäische Rat in der Schuldenkrise zum entscheidenden Forum für die Beschlüsse über die Rettungspakete und die Weiterentwicklung der Währungsunion. Dabei beschlossen die Eurostaaten, mit den nunmehr mindestens halbjährlich tagenden Eurogipfeln ein eigenes Format der Staats- und Regierungschefs der Eurozone einzurichten. Diese Eurogipfel sollen jeweils vor dem Europäischen Rat stattfinden und werden ebenfalls von einem ständigen Präsidenten geleitet. Dieses Amt wird gleichzeitig und für dieselbe Amtszeit wie der Präsident des Europäischen Rates gewählt, und der erste Amtsinhaber, Herman Van Rompuy, übt beide Ämter auch in Personalunion aus.

 

 

Neu eingeführt wurde mit dem Vertrag von Lissabon ein Instrument der direkten Bürgerbeteiligung. Im Rahmen einer Europäischen Bürgerinitiative kann die Kommission dazu aufgefordert werden, einen Rechtsakt vorzuschlagen, wenn dies von einer Million wahlberechtigter Unionsbürger unterstützt wird. Die genauen Bestimmungen für die Umsetzung einer Europäischen Bürgerinitiative wurden dazu in einer Verordnung festgelegt, nach der die Unterschriften innerhalb eines Jahres gesammelt werden und aus mindestens sieben EU-Staaten stammen müssen. Zum April 2012 in Kraft getreten, sind die ersten europäischen Bürgerinitiativen im Mai 2012 auf den Weg gebracht worden.

 

 

Erklärtes Ziel der EU ist es, die Kohärenz und die Handlungsfähigkeit ihrer auswärtigen Beziehungen zu verbessern. Hierzu wurde mit dem Vertrag von Lissabon das Amt der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik eingerichtet, das als Träger des Kohärenzgebots die verschiedenen Stränge der EU-Außenpolitik zusammen bringen soll. Die Hohe Vertreterin sitzt demnach zum einen den EU-Außenministern in der Ratsformation "Auswärtige Angelegenheiten" vor; im Falle der Verhandlung handelspolitischer Tagesordnungspunkte gibt sie den Stab allerdings wieder an den rotierenden Ratsvorsitz ab. Als eine der Vizepräsidentinnen der Kommission ist sie zugleich mit deren Zuständigkeiten im Bereich der Außenbeziehungen der Union betraut. Als erste Amtsinhaberin wurde die frühere EU-Handelskommissarin Catherine Ashton vom Europäischen Rat ernannt und vom Europäischen Parlament bestätigt. Unterstützen soll die Hohe Vertreterin der Europäische Auswärtige Dienst (EAD), der eine weitreichende institutionelle Neuerung bedeutet. Nach langen und zähen Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten im Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament konnte der Dienst Anfang 2011 seine Tätigkeit aufnehmen. Im ersten Jahr seiner Arbeit hat der EAD sich vor allem mit den Auswirkungen der Umbrüche im arabischen Raum und der europäischen Nachbarschaft beschäftigt, die Funktionsprofile der EU-Delegationen in Drittstaaten und bei Internationalen Organisationen erarbeitet und gemeinsam mit den jeweils federführenden Generaldirektionen der Kommission erste Grundsatzdokumente zur politikbereichsspezifischen Außenpolitik der EU erarbeitet.

 

 

Der Vertrag von Lissabon hat auch die Entscheidungsverfahren in der Gesetzgebung der EU reformiert. So wird insbesondere das Mitentscheidungsverfahren als "ordentliches Gesetzgebungsverfahren" zum Regelverfahren auf weitere Politikbereiche ausgeweitet. Damit hat das Europäische Parlament ein größeres Mitspracherecht und mehr Verantwortung für die Ausgestaltung des europäischen Sekundärrechts erhalten. Ebenfalls ausgedehnt wurde der Anwendungsbereich des Mehrheitsverfahrens im Rat. Für die Umsetzung von Gesetzgebungsmaßnahmen wurden zudem primärrechtliche Grundlagen für delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte geschaffen. Darüber hinaus wurde das Instrument der "Verstärkten Zusammenarbeit" überarbeitet, mit dem Gruppen von Mitgliedstaaten enger kooperieren können, falls eine Einigung aller 27 EU-Mitgliedstaaten scheitert. Schließlich sieht der Lissabonner Vertrag erstmals eine fünfstufige Verfahrenskette für Vertragsänderungen vor. Sie umfasst etwa Vertragsänderungen durch die Einsetzung eines Konvents sowie vereinfachte Verfahren für Vertragsänderungen in spezifischen Feldern. Über die neuen vereinfachten Vertragsänderungsverfahren wurde etwa der Art. 136 AEUV reformiert, um die Rechtsgrundlage für den Europäischen Stabilitätsmechanismus zu schaffen.

 

 

Das erste Jahr in der neuen Lissabonner Wirklichkeit, gepaart mit den Auswirkungen der Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise, hat auch den Blick auf die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union verändert. Zum einen hat das vielbeachtete Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon nicht nur Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten gestärkt. Vor allem benennt das Urteil mit Blick auf weitere qualitative Integrationsschritte Bereiche, die zur unantastbaren Gestaltungshoheit des nationalen Gesetzgebers gehören, und setzt damit Grenzen für die Teilnahme Deutschlands an der Europäischen Integration. Diese können nur durch eine weitgehende Änderung des Grundgesetzes oder aber – analog zur Praxis der Karlsruher Richter – durch anderslautende, höchstrichterliche Entscheidungen überschritten werden. Zum anderen bedeutet die stärkere Konzentration der Bundesregierung auf den Europäischen Rat einen Machtzuwachs. Dieser hat sich etwa in der zentralen Rolle der Regierung in der Vorbereitung der Europäischen Räte und der Bearbeitung der Schuldenkrise widergespiegelt. Die deutsche Europapolitik steht daher vor einer selbst verschuldeten, erhöhten "Führungsverantwortung" in der EU, aber auch unter einer kritischen Beobachtung durch ihre Partner. Insbesondere die intergouvernementale, auf den Europäischen Rat und die neuen Eurogipfel konzentrierte Herangehensweise jenseits der im Lissabonner Vertrag normierten Regeln und Institutionen zur Koordinierung, Leitung und "Führung" der EU wird kritisch beäugt.