Multi-level democracy and inter-parliamentary cooperation: Progressing towards cross-level parliamentarism” (MILDIPA)
Jean-Monnet Chair for Political Science and European integration studies, Prof. Dr. Andreas Maurer
Problemaufriss – Ausgangsbeobachtungen
(1) Die EU-Verträge postulieren, dass die Arbeitsweise der Union auf der repräsentativen Demokratie beruht, die Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten werden, die nationalen Parlamente aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beitragen und die Regierungen der Mitgliedstaaten gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen. Zur Zusammenarbeit der Parlamente weist Artikel 9 des Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU ergänzend darauf hin, dass „das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente […] gemeinsam fest[legen], wie eine effiziente und regelmässige Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten innerhalb der Union gestaltet und gefördert werden kann.“
(2) Der europäische Integrationsprozess wird seit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages regelmäßig unter dem Stichwort des Demokratiedefizits als undemokratisch, entparlamentarisiert, intransparent, bürgerfern, kompliziert und ineffizient kritisiert. Dreh- und Angelpunkt dieser EU-Kritik ist dabei die Einschätzung, dass innerhalb der EU durch das Setzen allgemein verbindlicher Entscheidungen, die unmittelbar in die Gestaltungsfreiheit der BürgerInnen eingreifen, öffentliche Herrschaft ausgeübt wird, die nicht den gewohnten Maßstäben demokratischen Regierens entspricht. Insbesondere die Gestaltungs- und politischen Eingriffsoptionen der handlungs- und entscheidungsberechtigten Akteure auf EU-Ebene gelten in diesem Zusammenhang als nicht oder nur unzureichend demokratisch legitimiert.
(3) Die EU stellt eine Zusammenfassung parlamentarisch-rechtstaatlicher Demokratien dar. Grundpfeiler für die Einigung Europas unter dem Dach der EU ist die Sicherstellung einer friedlichen Zusammenarbeit zwischen demokratischen Staaten, die ihrerseits dem Organisationsprinzip repräsentativer Demokratie verpflichtet und dementsprechend strukturiert sind. Zu erwarten wäre daher, dass die EU schon aufgrund der demokratischen Grundprinzipien der sie konstituierenden Staaten auch selbst über eine demokratische Grundordnung verfügt. Tatsächlich unterstreicht die Präambel des EU-Vertrags den Wunsch aller am hierdurch begründeten Herrschaftssystem Beteiligten, die „Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken.“ Ausgangspunkt des Vertrags selbst ist somit indirekt die Feststellung eines bestimmten Aggregatzustandes der Demokratie in der EU – Demokratie und Effizienz sind weiter zu entwickeln –; postuliert wird daher ein nicht genauer definiertes Maß demokratischen Regierens. Dieses wird mit Blick auf die Organe der EU als ausbaufähig und damit als Teil eines Prozesses erkannt.
In dieser Perspektive wurde auch der Lissabonner Vertrag – ähnlich wie die vorangegangenen Verträge und Reformen – nicht als
endgültig, sondern als Stufe oder Etappe eines Weges begriffen, dessen demokratische Finalität (noch) nicht erreicht ist. Der in der Präambel des Unionsvertrags manifestierte Wunsch nach einer
demokratischeren und effizienteren Ausgestaltung der EU ermöglicht es den integrationspolitisch unmittelbar (Regierungen, Abgeordnete des Europäischen Parlaments) und mittelbar (Abgeordnete der
nationalen Parlamente, Nichtregierungsorganisationen, Medien) involvierten Akteuren, die EU-Verträge als Elemente verschiedener europa- und integrationspolitischer Deutungskonzepte und Strategien
zu akzeptieren und zu nutzen, weil die Organe und ihre Verfahren nicht in einer hierarchischen, beispielsweise ihre machtpolitische Bedeutung unterstreichenden Anordnung aufgeführt werden. Die
Vertragspräambel weist aber auch darauf hin, dass die institutionellen und verfahrensmäßigen Grundlagen der EU nicht auf alle Zeiten festgelegt sind, sondern entwicklungsbedürftig – und somit
‚Leitbild-unterworfen’ – bleiben werden.
(4) In den letzten 25 Jahren haben sich Macht und Verantwortung des Europäischen Parlaments (EP) schrittweise ausgedehnt. Und spätestens mit dem Maastrichter Vertrag von 1993 haben die entscheidungsmächtigen Akteure der EU einen bis dahin ausgeblendeten Entwicklungspfad beschritten, der Kontroll-, Informations- und weitergehenden Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente gegenüber den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Europäischen Rat normiert. Vertragsreformen wie die Einheitliche Europäische Akte von 1987, der Maastrichter, der Amsterdamer und zuletzt der Lissabonner Vertrag haben auf beiden Parlamentsebenen ihre Spuren hinterlassen. Trotz dieser Reformschritte werden aber Defizite in der parlamentarisch-demokratischen Struktur der EU, der Transparenz ihres Willensbildungs- und Entscheidungssystems einschliesslich der hierauf Bezug nehmenden Regeln und Instrumente sowie eine Kluft zwischen den Herrschaftsausübenden und den Herrschaftsbetroffenen festgestellt.
(5) Der über Verträge grundnormierte Integrationsprozess ist dadurch gekennzeichnet, dass originäre Befugnisse der nationalen Parlamente auf die europäische Politikgestaltungsebene verlagert werden, die nicht vollständig und unmittelbar dem EP, sondern in der Regel zuerst der Regelungsgewalt des Ministerrats oder des Europäischen Rates zugeordnet werden. Dieses Reformschema der zyklischen, über Vertragsreformen rechtlich sanktionierten Allokation von Politikgestaltungsmöglichkeiten zugunsten des Ministerrats und Europäischen Rates, zu Lasten der nationalen Parlamente und tendenziell immer erst in einem zweiten, dem Kompetenztransfer zeitlich nachgeordneten Schritt zugunsten des EP haben die Staats- und Regierungschefs seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 (EGKS) kontinuierlich fortgeschrieben. Die daraus resultierende, im Vergleich zum Ministerrat und zum Europäischen Rat asymmetrische Stellung des EP und der sich aufgrund der Kompetenztransfers verringernde, direkte Einfluss der nationalen Parlamente im Hinblick auf ihre Gestaltungsspielräume in der Setzung allgemein verbindlicher Regeln begründen ein doppeltes Defizit an parlamentarischer Mitwirkung und Kontrolle. Doppelt, weil den nationalen Parlamenten gesetzgeberische – und im Zuge der jüngsten Reformen im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion auch massiv budgetäre Handlungsoptionen –verloren gehen, die vom EP nicht unmittelbar aufgefangen werden und der Europäische Rat, der Ministerrat und die Kommission folglich in die Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger der Union eingreifen können, ohne einer sanktionsmächtigen Kontrolle durch ein aufgrund von Wahlen direkt legitimiertes Organ zu unterliegen.
Den europäischen Einigungsprozess kennzeichnet so ein strukturelles Demokratieproblem: Internationale Verhandlungen setzen die Handlungsfähigkeit und
-freiheit derjenigen Akteure voraus, die im nationalen Zusammenhang zur Übertragung von Hoheitsrechten und deren Vollzug befugt sind; in den Staaten der EU sind dies aus demokratischen Wahlen
hervorgehende Regierungen. Folglich verfügen nationale Parlamente in der auswärtigen Politik nicht über die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten wie im Rahmen innenpolitischer Entscheidungszyklen.
Das hieraus erwachsende, parlamentarische Demokratiedefizit auswärtiger Politik und die in der Regel eher komplexen Repräsentations- und Verantwortungsketten von den Bürgerinnen und Bürgern zum
international verhandelnden Regierungsakteur kennzeichnen alle internationalen Organisationen. Für den ‚Sonderfall’ der EU ist aber unbestritten, dass die spezifische Organisationsform eines
mehrstufig gegliederten Verhandlungssystems sowie die geltenden Rechtsprinzipien der unmittelbaren Anwendbarkeit und des Vorrangs europäischen Rechts vor nationalem Recht weit über den
Handlungsrahmen klassischer, internationaler Organisationen hinausgehen. Als Folge des Integrationsprozesses hat somit auch die Trennschärfe zwischen aussenpolitischen und innenpolitischen
Handlungsinstrumenten und den hierauf anwendbaren Regeln der demokratischen Rückbindung von Repräsentanten an die von ihnen repräsentierten Bürgerinnen und Bürgern erheblich abgenommen.
Europapolitik wird spätestens seit der Ingangsetzung des Binnenmarktprogramms 1985/1987 und der in dessen Folge erreichten Integrationstiefe in immer mehr Bereichen des öffentlichen Lebens als
staats- und innenpolitikanaloges Handeln wahrgenommen. Weil ihre funktionale Reichweite umfassender angelegt ist und das in ihrem Rahmen erlassene Entscheidungsoutput unmittelbarer in die
Gestaltungsfreiräume der Bürgerinnen und Bürgern eingreift, trifft das Demokratiedefizit die EU und ihre Mitgliedstaaten stärker als internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen oder
die NATO.
Mehrere Entwicklungen haben dieses Demokratieproblem seit dem Maastrichter Vertrag verstärkt:
Fragestellungen des Projekts
Ausgehend von den oben dargelegten Problemstellungen beabsichtigt MILDIPA, Studierende der BA-, MA- und PhD-Studiengänge an Fragestellungen der demokratisch-parlamentarischen Rückbindung des europäischen Integrationsprojekts heranzuführen und diese in zwei Dimensionen eingehender zu analysieren:
(1) Ebenendimension: Parlamente lassen sich aus dem Zusammenhang des konkreten Regierungssystems heraus verstehen, in das sie einbezogen sind. Hierdurch sind ihre Kompetenzen, Funktionen, Arbeitsweisen sowie weitgehend die Verhaltensweisen ihrer Mitglieder bestimmt. Parlamente agieren in diesem Sinne auf subnationaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene in erster Linie ebenenspezifisch: Ihre Konstitution (Wahl, Zusammensetzung) und Funktionen leiten sich aus den unmittelbaren Aktionskontexten ab. Regionale Parlamente (inter)agieren auf der subnationalen, nationale Parlamente auf der nationalen, das Europäische Parlament auf der europäischen, die parlamentarische Konferenz der WTO auf der globalen Ebene. Nationale Parlamente, subnationale Parlamente und Europäisches Parlament wirken auf unterschiedliche und sich im Verlauf des Integrationsprozesses verändernde Weise an der Fortbildung der Europäischen Union und der effektiven Nutzung der vertraglich gesetzten Gestaltungsmöglichkeiten mit. Die Akteursebenen haben Berührungs- und Überschneidungspunkte, die in einzelnen Fällen zu Konflikten führen können, andererseits aber auch die Legitimation der Union verstärken helfen.
In den Vorlesungen und Seminaren werden somit systematisch die Strukturen und Handlungslogiken der verschiedenen Handlungsebenen sowie die Überlagerungen und Wechselwirkungen an den Schnittstellen der Ebenen – subnational-national-europäisch-global – im Hinblick auf die Herausarbeitung der Kennzeichen und Wirkmuster von Mehrebenensystemen vorgestellt, hinterfragt und politikbereichsspezifisch diskutiert. |
(2) Funktionsdimension: Unter Funktionen verstehen wir grundlegende Aufgabenstellungen von Parlamenten für das Bestehen und den Erhalt des politischen Systems, in dem sie wirken.Parlamentsfunktionen sind Mechanismen und Verhaltensweisen, mit deren Hilfe und durch die Parlamente die Grundfunktionen der Repräsentation in der Demokratie erfüllen. Aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen des EU-Systems kann das von Walter Bagehot für nationale Parlamente in Westminster-Demokratien konzipierte Funktionsraster nicht ohne Modifikationen auf die Parlamente im EU-System übertragen werden. Grundvoraussetzung für ein auf das Europäische Parlament und die nationalen (subnationalen) Parlamente zugeschnittenes Funktionenraster ist daher die Berücksichtigung der spezifischen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen im EU-System. Als bewährtes Analyseraster zur politikwissenschaftlichen Funktionsanalyse des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente greifen wir auf das vom Lehrstuhlinhaber entwickelte und empirisch unterfütterte (Maurer 2002, Maurer 2012, Maurer/Wessels 2001) Funktionenraster zurück.
In den Vorlesungen und Seminaren werden somit systematisch die Politikgestaltungs-, Wahl/Rekrutierungs-, Kontroll-, Interaktions/Kommunikations- und Systemgestaltungsfunktionen der Parlamente innerhalb und zwischen ihren jeweiligen Aktionsebenen vorgestellt, diskutiert und fallbezogen analysiert. |
MILDIPA diskutiert die dem EP und den nationalen Parlamenten angebotenen Handlungsoptionen zur Mitgestaltung europäischer Politik im Kontext des politischen Mehrebenensystems der EU. Normativer, didaktisch ständig zu unterstreichender Ausgangspunkt aller Projektaktivitäten sind die Vertragsgrundlagen in ihrer spezifischen Eigenschaft als den Organen und Gremien der EU zur Verfügung gestellte Anreizstrukturen. Zum besseren Verständnis des Mikrokosmos der Parlamentsebenen stützt sich die Lehre darüber hinaus auf die Darstellung und Diskussion inter- und intrainstitutioneller Handlungsregeln in Gestalt von Geschäftsordnungen und interinstitutionellen Vereinbarungen. Die im Maastrichter Vertrag erstmals angelegte und im Lissabonner Vertrag in erheblichem Maße formalrechtlich aufgewertete Verknüpfung der beiden Parlamentsebenen soll auf diese Weise ernst genommen werden: Die dem Projekt zugrundeliegende Leitthese, aus der sich weitere, analytische Fragen für alle Vorlesungen, Seminare, Workshops und Konferenzen ergeben, lautet:
Durch die sukzessive Ausdehnung der Befugnisse des EP und der nationalen Parlamente dokumentieren die EU-Verträge den Versuch, den polyarchischen
Mehrebenencharakter europäischer Politik in seiner parlamentarischen Dimension zu formalisieren, institutionell zu verfestigen und damit dem Beteiligungsdrang der Abgeordneten des EP und der
nationalen Legislativen entgegenzukommen.
MILDIPA geht somit den folgenden Leitfragen nach:
|
Konzeptionell geht das Projekt MILDIPA somit davon aus, das die an der Genese europäischer Politik beteiligten Akteure spätestens seit dem Maastrichter Vertrag einen ‚Pfad’ des ‚Mehrebenenparlamentarismus‘ angelegt haben. Konzeptionell zeichnet sich dieser Pfad durch die folgenden, in den Einzelaktivitäten des Projekts näher zu beleuchtenden Indikatoren aus: